Auf dem Weg zu Net Zero (Netto-Null): Eine gerechte Energiewende, die niemanden im Stich lässt

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Solar panel engineer

Auf dem Weg zuNet Zero sind wir doch alle auf der Gewinnerseite, richtig? Leider nein. Der rasche Übergang zu einer CO2-armen Zukunft wird sich auf die verschiedenen Gruppen und Regionen auf sehr unterschiedliche Weise auswirken. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten einer globalen Krise nicht in gleichem Maße zu Buche schlagen und dass das schiere Ausmaß der Bemühungen, die erforderlich sind, um die weitaus größere existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel zu bewältigen, nicht gerecht ist. 

Mit den bedeutsamen Ankündigungen vom Dienstag bei COP26 steigt die Zahl der Länder, die sich zum Erreichen von Net Zero verpflichten, auf 130.1 Diese Ziele sind für die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau von entscheidender Bedeutung, aber es müssen schnell Maßnahmen ergriffen werden, um diese Volkswirtschaften so umzustellen um die Ziele zu erreichen.

Der Wandel ist bereits in vollem Gange, und die Bemühungen um die Dekarbonisierung von Energie, Verkehr und Wärme rücken immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Bei COP26 wurden bereits Verpflichtungen zum Stopp der Entwaldung, zur Senkung der Methanemissionen, zur Begrenzung der Kohleförderung und zur Finanzierung des Energiezugangs angekündigt. 

Das Ausmaß und das Tempo der Bestrebungen sind gekennzeichnet durch starke Verpflichtungen, bestehende Kohlekraftwerke stillzulegen, den Bau neuer Kraftwerke zu stoppen und den Verkauf von Benzin- und Dieselfahrzeugen zu verbieten, während gleichzeitig neue, CO2-arme Alternativen eingeführt werden. Das sind auf jeden Fall Entwicklungen, die Mut machen. 

Und wir alle haben von dieser Energiewende etwas. Eine bessere Gesundheit (einschließlich der Gesundheit der Atemwege), eine sauberere Umwelt und sauberere Ökosysteme sowie insgesamt geringere Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel werden vor allem denjenigen zugute kommen, die am stärksten von den Auswirkungen einer sich erwärmenden Welt betroffen sind. Mit neuen Innovationen im Bereich der sauberen Technologien werden neue Arbeitsplätze und Industrien entstehen und viele Gemeinden werden florieren. 

Doch wie bei jedem Paradigmenwechsel sind die Auswirkungen und Folgen nicht immer gleichmäßig verteilt. Der Rückgang kohlenstoffintensiver, umweltverschmutzender Industrien wird sich unweigerlich auf den mit diesen Industrien verbundenen Arbeitsmarkt auswirken, und die Arbeitnehmer und ihre Gemeinden werden die Folgen zu spüren bekommen. Umweltfreundliche Energieprojekte können sogar unbeabsichtigte Kosten verursachen, wie z. B. die Enteignung von Grund und Boden oder einfach eine Änderung der Lebensweise, z. B. die Notwendigkeit einer Umschulung, die für manche unerschwinglich sein kann. 

Während einige Haushalte von neuen Technologien wie Solarzellen oder Elektrofahrzeugen profitieren können, bleiben andere mangels finanzieller Mittel oder einer unzureichenden Infrastruktur in ihrer Nähe außen vor.2 So sind beispielsweise CO2-arme Verkehrsmittel wie E-Scooter oder Fahrräder für ältere oder behinderte Menschen möglicherweise nicht geeignet, während digitale, intelligente Technologien von digital weniger gut ausgebildeten Menschen nicht genutzt werden. 

Eine gerechte Energiewende ist eine Energiewende, bei der Überlegungen zu Gleichheit und Fairness eine Rolle spielen.  Es ist ein Konzept, das die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie Kosten und Nutzen, die durch den Übergang zu einer Net Zero-Gesellschaft entstehen, verteilt werden und wie dies gerecht geschehen kann. Die notwendige Umstellung des Energiesystems bietet die Chance, das Wohlergehen aller Menschen in der Gesellschaft zu verbessern - aber sie erfordert sorgfältige Überlegungen, Planung und Engagement, um dies zu erreichen. 
 

Die Ursprünge der „gerechten Energiewende“

Das Konzept der gerechten Energiewende ist nicht neu. Diese begann in gewisser Weise bereits in der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten, als die Gewerkschaften angesichts des zunehmenden Umweltschutzes einen besseren Schutz der Arbeitnehmer verlangten. In den letzten Jahren hat sich das Konzept jedoch erweitert und umfasst nicht nur den Schutz von Arbeitnehmern und Gemeinden, die von der Abkehr von nicht nachhaltigen Industrien betroffen sind, sondern auch die Beseitigung anderer sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten durch eine gerechtere Verteilung von Kosten und Nutzen.  Es geht auch darum, den betroffenen Bürgern eine aktive Rolle bei der Gestaltung ihrer CO2-armen Zukunft zu geben. Obwohl es keine eindeutige Definition gibt, kann ein gerechter Übergang ganzheitlicher betrachtet werden - als Oberbegriff für andere Konzepte, die Umweltbelange mit sozialer Gerechtigkeit verbinden - einschließlich Umwelt- und Klimagerechtigkeit.13 

Das Ziel einer gerechten Energiewende sollte darin bestehen, eine gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen und gleichzeitig eine dekarbonisierte Zukunft anzustreben.  Wenn die politischen Entscheidungsträger die unterschiedlichen Erfahrungen des Ausschlusses von den Vorteilen des Übergangs anerkennen und ein vielfältiges, lokales Engagement in den Vordergrund stellen, könnten die Kosten, die von gefährdeten Gruppen und Gemeinschaften getragen werden, minimiert werden. Damit es wirklich eine gerechte Energiewende ist, muss sie auch integrativ sein. 

Auch wenn es keine festen Regeln für einen gerechten Übergang gibt, so gibt es doch einige Grundprinzipien, die eine gerechtere Verteilung von Nutzen und Kosten unterstützen können. 

1.    Anerkennen, dass es immer Leute geben wird, die profitieren, und Leute, die nicht profitieren 

Damit eine Energiewende gerecht ist, muss sie aktiv auf die Beseitigung bestehender und potenzieller sozialer Ungleichheiten hinwirken, die durch den Wandel entstehen oder verschärft werden können. Diese Ungleichheiten können auf dem Beschäftigungsstatus, der Nähe zu Industrie oder Infrastruktur und dem sozioökonomischen Status sowie auf sozialen Merkmalen wie Geschlecht, Migrantenstatus, ethnischer Herkunft, Alter, Fähigkeiten und anderen geschützten Merkmalen beruhen.  Dadurch wird bestimmt, wer in der Lage ist, Entscheidungen im Zusammenhang mit der Energiewende zu beeinflussen, und wer von diesen Entscheidungen profitieren oder verlieren wird. 

Es ist wichtig, daran zu denken, dass nicht jeder die Auswirkungen auf die gleiche Weise spürt, und das Zusammentreffen einiger dieser Merkmale kann die negativen Erfahrungen mit einer Energiewende noch verstärken.  So gibt es beispielsweise Hinweise darauf, dass Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise vom Rückgang in von Kohle abhängigen Gemeinden betroffen sind.3 Anzuerkennen, wer heute von den Vorteilen kohlenstoffarmer Technologien ausgeschlossen ist, wird sich entscheidend dahingehend auswirken, wie die Vorteile und Kosten kohlenstoffarmer Technologien in Zukunft verteilt werden. 

Der Schutz vor negativen Auswirkungen der Energiewende und die Stärkung von gefährdeten und ausgegrenzten Menschen sollten bei der Bewertung der Auswirkungen und der Konzipierung von Unterstützungsmaßnahmen im Vordergrund stehen. 

2.    Faire und integrative Planungsprozesse gewährleisten 

Faire Verfahren zur Beteiligung können zu Entscheidungen über die Energiewende führen, die gerechte Ergebnisse fördern. Bei diesen Verfahren sollten eine faire Vertretung, Transparenz und die Einbeziehung von lokalem Wissen im Vordergrund stehen. Der Aufbau von Kapazitäten für die Teilnahme an solchen Prozessen wird wahrscheinlich notwendig sein, da einige gesellschaftliche Gruppen wie Frauen,4 indigene Völker5 und Behinderte6 nach wie vor auf anhaltende Hindernisse für die politische und wirtschaftliche Beteiligung im Energiesektor stoßen.  Wenn die Interessen eines breiten Spektrums von Bürgern, einschließlich derer von Randgruppen, gehört werden, steigen die Chancen, dass Nutzen und Lasten gerechter verteilt werden.7

Eine breite Vertretung derjenigen, die von den Veränderungen in der lokalen Umwelt und der lokalen Wirtschaft betroffen sind, ist von zentraler Bedeutung – die Bürgerinnen und Bürger können sich an der Aushandlung und Gestaltung der Vision für die Energiewende in ihrem lokalen Kontext beteiligen, anstatt dass sie ihnen aufgezwungen wird. Sie können dabei helfen, die Arten von Abhilfemaßnahmen zu bestimmen, die geeignet wären, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, seien es alternative Möglichkeiten der Existenzsicherung, Kapazitätsaufbau und Umschulung, Unterstützungsdienste, sozialer Schutz oder Projekte zur Gemeinschaftsentwicklung. Politische Veränderungen, Projekte und Technologien werden wahrscheinlich eine weitaus größere gesellschaftliche Akzeptanz finden, wenn sie Teil einer gemeinsamen Vision für die Energiewende sind8 und wenn das lokale Wissen geschätzt und berücksichtigt wird. Freiwillige Ansätze wie die „Climate Assembly“ im Vereinigten Königreich oder die „Participatory Value Evaluation in Heat Transitions Vision“ in Utrecht haben es einer Reihe von normalen Bürgern und lokalen Stimmen ermöglicht, politische Entscheidungen zu beeinflussen und lokale Perspektiven zu teilen.9, 10 

3.    Betroffene Arbeitnehmer, Gemeinden und Regionen bei der Beseitigung bestehender Ungleichheiten unterstützen 

Es gibt keine Einheitslösung, wenn es um die gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen der Energiewende geht. Investitionen in neue Möglichkeiten sind in einigen Regionen aufgrund der natürlichen Gegebenheiten, der vorhandenen Industrie, der qualifizierten Arbeitskräfte und der Infrastruktur leichter zu realisieren.  Während beispielsweise Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie als attraktiver Ersatz für Arbeitsplätze im lokalen Kohlebergbau erscheinen mögen, sind sie nicht überall verfügbar oder realisierbar.11 Für einige Gemeinden, die mit dem Niedergang der Industrie für fossile Brennstoffe konfrontiert sind, bietet das Aufkommen neuer, innovativer Technologien wie grüner Wasserstoff aus Sonnen- oder Windenergie und Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung (CCUS) die Chance, Arbeitsplätze zu schaffen und eine führende Rolle in der Industrie zu übernehmen. Es gibt Möglichkeiten für die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume, für Energieeffizienz und die Installation von Wärmepumpen sowie für die Umstellung qualifizierter Arbeitsplätze in der Öl- und Gasindustrie, z. B. auf Offshore-Windkraftanlagen. 

Um diese Chancen zu nutzen, bedarf es langfristiger Pläne und Anreize, um Investitionen dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden. Außerdem sind Investitionen in die Qualifizierung der Arbeitnehmer, in die Umschulung und Ausbildung, in die regionale Forschung und Entwicklung grüner Technologien und in die lokale Wirtschaftsentwicklung erforderlich, um eine Abkehr von fossilen Brennstoffen zu erreichen. Wenn es nicht möglich ist, die Arbeitnehmer bei der Suche nach einer neuen Beschäftigung in umweltfreundlicheren Branchen zu unterstützen, kann ein sozialer Schutz erforderlich sein. Historisch bedingte regionale Ungleichheiten bedeuten, dass einige weiter zurückliegen als andere, so dass diejenigen mit geringerer finanzieller Leistungsfähigkeit zuerst unterstützt werden sollten. 

Für den Globalen Süden sind sehr unterschiedliche Ansätze erforderlich. Während die weltweite Pandemie den Effekt hatte, dass uns die Dringlichkeit der Berücksichtigung der menschlichen Auswirkungen des globalen Wandels vor Augen geführt wurde, da sie soziale Ungleichheiten innerhalb der Länder geschaffen oder vergrößert hat,12 hat die ungleiche Verteilung von Impfstoffen weltweit gezeigt, wie neue Technologien den globalen Süden weiter zurücklassen können. 

Angesichts der steigenden Zahl der informellen Arbeitskräfte, der hohen Arbeitslosigkeit und des fehlenden Zugangs zu Energiedienstleistungen muss es bei der Umstellung nicht nur um die Umwandlung von Arbeitsplätzen gehen, sondern auch um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Der Zugang zu sauberen, nachhaltigen und zuverlässigen Energiequellen kann Chancen für neue Industrien und Existenzen eröffnen, hat aber auch das Potenzial, anhaltende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen, indem er beispielsweise Frauen unternehmerische Möglichkeiten bietet. 

COP26 hat das Potenzial, den Ehrgeiz zu wecken, um eine integrative Energiewende zu schaffen. In der vergangenen Woche haben mehr als 30 Länder die Erklärung zur gerechten Energiewende (Just Transition Declaration) unterzeichnet, in der die Notwendigkeit anerkannt wird, dafür zu sorgen, dass in einer Net Zero-Wirtschaft niemand zurückgelassen wird. Es gibt auch ermutigende Zusagen zur Finanzierung gerechter und inklusiver Übergänge in Entwicklungs- und Schwellenländern, wie die Ankündigung der britischen Regierung, weitere GBP 126 Mio. für die Plattform „Transforming Energy Access“ (TEA) bereitzustellen, die Teil eines Pakets zur Unterstützung eines inklusiven und gerechten Übergangs ist. Kurz darauf kündigte die Präsidentin der European Climate Foundation, Laurence Tubiana, den Start des von Carbon Trust unterstützten Coal Asset Transition Accelerator (CATA) an, der Schwellenländer beim gerechten Ausstieg aus der Kohle unterstützen soll. Dies sind wichtige Initiativen, aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Starke Bekenntnisse zur Gerechtigkeit, der Gleichstellung der Geschlechter und der sozialen Eingliederung müssen in alle unsere Verpflichtungen und Maßnahmen eingebettet werden, um Net Zero zu erreichen. Unser Übergang zu einer Net Zero-Zukunft muss nicht nur nachhaltig sein, sondern auch integrativ und gerecht.
 


  1. BBC. What is net zero and how are the UK and other countries doing? BBC News https://www.bbc.co.uk/news/science-environment-58874518 (2021).
  2. Sovacool, B. K. & Martiskainen, M. The whole systems energy injustice of four European low-carbon transitions. Global Environmental Change 58, 101958 (2019).
  3. Lahiri-Dutt, K. Gendering just transition. Policy Forum https://www.policyforum.net/gendering-just-transition/.
  4. Mohr, K. Breaking the Dichotomies: Climate, Coal, and Gender. Paving the Way to a Just Transition. The Example of Colombia. Energies 14, 1–18 (2021).
  5. Maldonado, J. et al. Engagement with indigenous peoples and honoring traditional knowledge systems. Climatic Change 2015 135:1 135, 111–126 (2015).
  6. Snell, C., Bevan, M. & Thomson, H. Justice, fuel poverty and disabled people in England. Energy Research and Social Science 10, 123–132 (2015).
  7. Jenkins, K., McCauley, D. & Forman, A. Energy justice: A policy approach. Energy Policy vol. 105 631–634 (2017).
  8. Demski, C., Thomas, G., Becker, S., Evensen, D. & Pidgeon, N. Acceptance of energy transitions and policies: Public conceptualisations of energy as a need and basic right in the United Kingdom. Energy Research and Social Science 48, 33–45 (2019).
  9. TU Delft. Residents choose gas-free neighbourhoods. Participatory Value Evaluation (PVE) Case Study: Heat Transition Vision Utrecht. TU Delft https://www.tudelft.nl/en/tpm/pve/case-studies/heat-transition-vision-utrecht (2020).
  10. Thomas, G., Demski, C. & Pidgeon, N. Energy justice discourses in citizen deliberations on systems flexibility in the United Kingdom: Vulnerability, compensation and empowerment. Energy Research and Social Science 66, 101494 (2020).
  11. Pai, S., Zerriffi, H., Jewell, J. & Pathak, J. Solar has greater techno-economic resource suitability than wind for replacing coal mining jobs. Environmental Research Letters 15, 034065 (2020).
  12. Goldin, I. COVID-19: how rising inequalities unfolded and why we cannot afford to ignore it. The Conversation https://theconversation.com/covid-19-how-rising-inequalities-unfolded-and-why-we-cannot-afford-to-ignore-it-161132 (2021).
  13. McCauley, D. & Heffron, R. Just transition: Integrating climate, energy and environmental justice. Energy Policy 119, 1–7 (2018).